Wo ist Dersim? Wer sind die Dersimer?
(Die Geographie, Kultur und Geschichte von Dersim) Die Region Dersim erstreckt sich im Mittleren Osten der heutigen Türkei, im Norden, von Erzingan (Erzincan) im Osten bis Erzurum, im Süden bis Gmgm (Varto) und Malatya, sowie im Westen bis Kocgiri / Sewas (Sivas).
Die Region ist geprägt von Bergen und Flüssen (Munzur, Harçig, Frat, Murat, Kzlrmak), Hochland und Ebenen, mit einzigartiger Flora und Fauna ist sie Lebensraum für unzählige seltene... weiterlesen Tierarten.
Das Wort „Dersim“ ist eine sehr alte geographische Bezeichnung für die Region. Zum ersten Mal wird der Name Dersim in dem Werk „Anabasis“ von Xenonphon im Jahre 401/402 v. Chr. erwähnt, der mit seinen griechischen Soldaten von Babylon nach Trabezunt (heutiges Trabzon) am Schwarzen Meer zog. Die Grenzen der Region Dersim wurden in den vergangenen Jahrhunderten, zunächst während des Osmanischen Reiches, später nach der Gründung der Republik Türkei, desöfteren neu gezeichnet, zuletzt wurden 1936, nachdem das Zentrum der Region Dersim (Mamekiye) 1935 vom türkischen Staat in Tunceli umbenannt wurde, weite Teile der Region den Nachbarstädten angegliedert...
Das Munzur-Tal und Nationalpark Munzur
Die Geschichte von Dersim ist geprägt durch Auseinandersetzungen mit den Besatzern von vor- osmanischer Zeit bis zur Gegenwart für die kulturelle und religiöse Eigenständigkeit zur Bewahrung eigener Identität und Kultur.
In der historischen Region Dersim lebten mehrere Ethnien miteinander (Krmanci- und Krdaschkisprachige, Kurden, Armenier, Zazas). Wegen seiner geographisch günstigen Lage wurde Dersim in der Geschichte zur Zufluchtsheimat für bedrohte Völker und Ethnien. Beim Massaker an den Armeniern im Jahre 1915 haben viele Dersimer ihr Leben verloren. Der Koçgiri-Massaker im Jahr 1921 beeinflusste die Dersimer unmittelbar. Beim Dersim-Genozid von 1937/1938 haben nach Schätzungen der Zeitzeugen zwischen 50 und 70 Tausend Dersimer ihr Leben verloren, und nach staatlichen Quellen wurden 13.813 Menschen ermordet. Der Genozid hinterließ bei den Dersimern ein unvergessliches Trauma, das über Generationen bis auf die Gegenwart andauert.
Nach dem Genozid wurden Zehntausende in die westliche Türkei zwangsdeportiert und in die türkisch bewohnten Dörfer zwangsumgesiedelt. Durch die Umsiedlung sollten die Überlebenden aus der Region Dersim und Kulturkreisen isoliert werden, mit dem Ziel einer Zwangsassimilation. Sie durften ihre Verwandten nicht besuchen. Vom 1938-1946 wurde der größte Teil von Dersim zum Sperrgebiet, Reisen und Ansiedlung wurden verboten. Im gleichen Zeitraum wurden viele Waisenkinder von ihren Familien und Verwandtschaft entwurzelt und türkischen Familien zur Adoption gegeben.
Die Provinzstadt Tunceli in Zentrum von Dersim
Gegenwärtig wird das Bestehen von Dersim und Dersimern durch militärische Auseinandersetzungen, durch den Bau von Staudämmen, durch Goldabbauprojekte mit naturschädigenden Methoden und infolge all dessen durch Auswanderung der einheimischen Bevölkerung bedroht.
Nach Informationen der türkischen Presse vom 19. Juli 2005 ist die Einwohnerzahl von Zentral-Dersim (Tunceli) in den letzten fünf Jahren um 15,4 %, vom 93.584 auf 83.645 zurückgegangen.
Damit steht Dersim (Tunceli) in der Liste der Städte mit dem prozentual höchsten Bevölkerungsverlust in den letzten fünf Jahren auf der Spitze, und Dersim ist mittlerweile die Stadt mit der niedrigsten Einwohnerzahl in der Türkei.
Aus Zentral-Dersim (Tunceli) leben etwa weitere 600.000 Menschen außerhalb der Region in den Großstädten der Türkei, vor allem im Westen der Türkei.
Von den rund 400 Dörfern in Dersim wurden in den 1990er Jahren 235 Dörfer entvölkert und
zerstört. Heute sind viele Dörfer kaum bewohnbar.
Einerseits durch andauernde Militäroperationen, andererseits durch den Bau von Staudämmen, Waldbrände bei Operationen des Militärs, Zerstörung der Natur und Kultur, Räumung der Dörfer, in Folge dessen Auswanderungen, parallel dazu den Rückgang der Wirtschaft, verliert Dersim allmählich die Kraft, als Lebensraum zu existieren. Sprache, Religion, Kultur und Identität der Dersimer In Dersim werden gegenwärtig mehrere Sprachen gesprochen. Die Sprachen der einheimischen Dersimer sind Krmancki (wird von der Mehrheit der Einheimischen gesprochen und ist wegen Verbot als Bildungssprache vom Aussterben bedroht, international als Zaza-Sprache bekannt), und Krdaki (als Kurdisch bekannt).
Die Dersimer haben eine vielfältige humanistische Glaubenskultur (Raya-Xaq, Hizir-Glaube) die durch Inhalte ihrer alten Rituale und Gebräuche (Glaube an Natur und Mensch), vom Kizilbas-Alevitentum geprägt ist und das Hauptbindeglied der eigenständigen Identität der Dersimer ausmacht. Die zentralen Werte dieser Glaubenskultur basieren auf dem Glauben an die Natur und an den Menschen sowie auf dem gerechten sozialen Zusammenleben von Mensch und Natur, Frau und Mann und der Völker. Gerade durch diese historische Entwicklung der eigenständig vielfältigen Glaubenskultur hat Dersim trotz Mehrsprachigkeit und Ethnienvielfalt eine eigenständige Identität erlangt. Diese Identität wird bis in die Gegenwart in den historischen Grenzen der Region Dersim bewahrt und gepflegt. Die Dersimer wurden wegen ihres Glaubens vom Osmanischen Reich und vom türkischen Staat mit unzähligen Masskern bestraft. Das letzte Dersim-Massaker fand in den Jahren 1937/38 statt.
Zwangsvertriebene nach dem Dersim-Genozid im Jahr 1938
Durch gezielte Politik des Staates werden auch gegenwärtig die Kultur, der Glaube und die Identität von Dersimern ignoriert und bedroht. Glaubensritualhäuser der Dersimer „Cemevleri“ werden vom Staat nicht als solche anerkannt, stattdessen baute der Staat trotz Ablehnung der Bevölkerung in der Region Moscheen.
Vor Jahren wurde in Dersim das Munzur-Festival gegen den Bau von Staudämmen ausgerufen, um die Natur und Kultur von Dersim zu schützen und wiederzubeleben. Das Festival wurde allmählich die Stimme der Dersimer, deren sozialer und kultureller Erwartungen sowie der Natur von Dersim. Mit bis zu 50.000 Besuchern jährlich aus dem In-, und Ausland in den letzten Jahren förderte das Festival die Wirtschaft und das Leben in Dersim. Das Festival wurde mal ganz verboten, mal 3 Tage vor Beginn„ aus Sicherheitsgründen“ durch den Stadtgoveneur um 45 Tage verlegt und damit praktisch
verboten.
Obwohl das Munzur-Tal im Jahr 1971 als Nationalpark zum Naturschutzgebiet deklariert wurde, werden auf dem Munzur-Fluss mehrere Staudämme geplant und gebaut. Dadurch wird Dersim praktisch entvölkert und die einzigartige Natur des Munzur-Tals zerstört.
Dersimer in Europa
Mit Zuwanderung von Gastarbeitern aus der Türkei in die europäischen Länder Anfang der 1960`er Jahre sind auch viele Dersimer nach Europa gekommen. Sie leben hauptsächlich in Deutschland und in den Ländern Niederlande, Frankreich, Österreich, Schweiz, Belgien, Dänemark, Schweden und Großbritannien. Laut türkischen Statistikamt (TUIK) leben gegenwärtig (2017) in Deutschland über 213.000 Menschen aus der Region Zentral-Dersim. Wenn man den Großraum Dersim (Tunceli, Erzincan, Teile von Sivas und Teile von Elazig) berechnet, schätzt man die Zahl der nach Deutschland Eingewanderten aus der Region auf über 400.000, in Gesamt-Europa auf etwa 500.000. Die meisten Dersimstämmigen sind Aleviten.
Die Integration der Dersimer in Europa ist im Vergleich zu anderen türkischstämmigen Zuwanderer*inen sehr groß. Die Dersimer haben sich einerseits in die westlichen Gesellschaften integriert, andererseits haben sie versucht, ihre kulturelle Identität zu pflegen und sich mit den Menschen in ihrer Heimat zu solidarisieren. Die Region ist eine Art Pilgerzentrum für in der Diaspora lebende Dersimer geworden. Man schätzt, dass jährlich bis zu einer Million Menschen Dersim besuchen.
Die Region Dersim wurde besonders in den 80`er und 90`er Jahren Zielscheibe der militärischen Operationen. Dies führte zur Zerstörung von Dörfern und Auswanderung der Bevölkerung aus der Region. Um sich mit Dersimern in der Heimat zu solidarisieren, haben die Dersimer in Europa mehrere Initiativen und Vereine gegründet. Diese Vereine haben einerseits die Solidaritätsarbeit mit Dersim aufgenommen, andererseits mit kulturellen Aktionen ihre Kultur und Identität in den europäischen Ländern gepflegt und aufbewahrt.
Die Dersimer sind auch politisch sehr stark polarisiert. Unter den Dersimern sind neben vielen politisch-etnischen bzw. linksorienterten Organisationen, auch Kultur-, Glaubens- und Sprachpflege- Organisationen verankert, die demokratische Werte als Grundlage für ihre Arbeit nehmen. Eine davon ist die Föderation der Dersim Gemeinden in Europa e.V. (FDG). Unter dem Dach der FDG sind etwa 15 Vereine in Deutschland und in einigen anderen europäischen Ländern organisiert, und sie bilden die Föderation von Dersim-Gemeinden in Europa.
Die Ziele dieser Föderation sind, die kulturellen Aktivitäten dieser Vereine und die Integration der Dersimer in Europa zu fördern und die Solidaritätsarbeit mit Dersim zu koordinieren sowie die Natur, die Kultur und die Identität von Dersim und Dersimern zu pflegen und aufzubewahren.
Die Dersimer wünschen ein friedliches Miteinanderleben in Europa und in ihrer Heimat auf der Grundlage der Menschenrechte und Demokratie. Sie wollen mit ihrer eigenständigen Identität in der Vielfalt der Kulturen existieren.[verkleinern]
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