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Vor einigen Tagen unternahmen wir eine Führung der besonderen Art durch den Wedding, wie sie dem Touristen normaler Weise nicht zuteil wird.
Wir durchstreiften den Wedding als einen der im vorletzten Jahrhundert typischen Arbeiterbezirke auf der Suche nach Spuren der Lebens -und Arbeitsbedingungen der Arbeiter.
So schauten wir uns noch heute authentische Wohnhöfe an.
Die bekanntesten Wohnhöfe im vorletzten Jahrhundert - jedoch heute saniert - finden sich allerdings an anderer... weiterlesen prominenter Stelle, nämlich die Hackeschen Höfe.
Wir schauten uns einen vormaligen Industrie- und Handwerkshof an der Ringbahnstrecke an, in dessen Zugang wir uralte Firmenbezeichnungen entdeckten.
Entdecken konnten wir mitten im Wedding auch die verfallenden Ruinen des 1895 errichteten Obdachlosenasyls Wiesengrund, welches mehreren hundert Menschen zugleich ein Dach über dem Kopf bot. Seinerzeit war Obdachlosigkeit strafbar und so gewährte diese Einrichtung denjenigen Unterschlupf, die vom Lande in die Stadt drängten, um sich dort als Arbeiter in den aufgrund der Industrialisierung aus dem Boden sprießenden Fabriken zu verdingen.
Auch kamen wir am sogenannten Bullenkloster vis a vis vom Amtsgericht Wedding vorbei. Erstaunlicher Weise trägt die über dem Portal des Gerichts stehende Justitia weder Waage noch Augenbinde, sondern Gesetzbuch und Schwert. Das lässt Spielraum für Interpretationen und Spekulationen....
Plötzlich standen wir auf einem kleinen Platz an der Walter - Röber - Brücke bei der dahinplätschernde Panke. Am Rande des Platzes befindet sich ein unscheinbarer liegender, ovaler Findling von einer Größe von ca. 1 m Höhe und ca. 1, 5 m Breite .
Bei näherem Hinschauen erkennt man eine in den Granit gemeißelte Inschrift :
"Anfang Mai 1929 fanden hier bei Straßenkämpfen 19 Menschen den Tod, 250 wurden verletzt."
Weder eine Informationstafel gibt Auskünfte über die historischen Hintergründe, noch eine Stele , welche die Opfer namentlich nennt, ist errichtet.
Was also soll der Passant mit einer solchen Gedenkstätte anfangen, die mehr vertuscht als enthüllt? Und wer hat ein Interesse daran, dass mehr vertuscht als enthüllt wird?
Unser Stadtführer hat uns natürlich über den thematischen Zusammenhang mit der Führung aufgeklärt.
Wer nun mit diesem Stein und dessen Inschrift nichts anfangen kann und meint, es fehle ihm wohl der klassische Bildungskanon, der sei beruhigt.
Aus einer Gruppe von 20 historisch interessierten Menschen konnte sich auf Anhieb keiner einen Reim machen, bis unser Stadtführer uns einen Hinweis gab.
Ich will versuchen, das wesentliche der sehr komplexen historischen Ereignisse auf den Punkt zu bringen.
Versetzen wir uns in das Jahr 1929. 10 Jahre nach der Revolution sowie nach wirtschaftlich schweren Jahren mit Inflation und Arbeitslosigkeit brodelt es im Deutschen Reich gewaltig. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung - insbesondere unter den Arbeitern - ist enorm.
Der sog. Blutmai oder die Maiunruhen 1929 sind einer der markanten Wegpunkte der Arbeiterbewegung des vergangenen Jahrhunderts.
In Berlin wird im Vorfeld des 1. Mai ein Demonstrationsverbot verhangen. Gewerkschaften und SPD halten sich daran, während die KPD verbreitet, dass das Verbot angeblich aufgehoben sei. Im Folgenden eskalieren die Demonstrationen unter freiem Himmel in Neukölln und im Wedding zu blutigen Straßenschlachten zwischen Arbeitern und der Polizei. Es ist von insgesamt 33 Toten, davon 19 im Wedding und mehren hundert Verletzten die Rede. Tote gibt es nur unter den Arbeitern.
Die KPD machte für die Ausschreitungen ausschließlich die SPD verantwortlich.Die Verantwortung für das Demonstrationsverbot und für den Polizeieinsatz trug der sozialdemokratische Polizeipräsident Zörgiebel.
Umgekehrt machten die Sozialdemokraten die Kommunisten verantwortlich.
Im " Vorwärts" ,der Zeitung der Sozialdemokraten, stand wenige Tage später:
»Die Kommunisten haben erreicht, was sie wollten. Am 1. Mai, dem Weltfeiertag der sozialistischen Arbeiter, haben in stundenlangen Kämpfen zwischen Kommunisten und Polizei viele Verletzte und eine Reihe Toter mit dem Blute das Pflaster Berlins gerötet. Trotz aller Warnungen haben sie den Widerstand gegen die republikanischen Behörden organisiert, in unverschämtester Sprache immer aufs Neue gegen die Republik, gegen den Polizeipräsidenten und vor allem gegen die Sozialdemokratie gehetzt.«
Die Vorstände von SPD und Reichstagsfraktion erklärten in einem Aufruf, dass die Berliner Maiopfer "auf Befehl der kommunistischen Zentrale gefallen" seien. Auf ihrem Magdeburger Parteitag Ende Mai verteidigte der Parteivorsitzende Otto Wels (1873–1939) das Vorgehen der Polizei und warf der KPD Putschismus vor.
Die Ereignisse des 1. Mai 1929 in Berlin vertieften die Feindschaft zwischen KPD und SPD und trugen zur weiteren Spaltung der Arbeiterbewegung und der antifaschistischen Kräfte bei.
Aus dieser Zeit rührt auch das Arbeiterlied "Roter Wedding".
Diese anscheinend unüberwindbare Kluft besteht zwischen den linken Parteien bis in die Gegenwart. Unser Stadtführer erzählte uns in diesem Zusammenhang, dass am 1. Mai zunächst eine Delegation der Linken an dem Gedenkstein einen Kranz ablege und Stunden später die SPD gleiches tue.
Ich habe viele - mehr oder wenig tendenziöse - Quellen zu den Ereignissen studiert, alle gehen jedoch übereinstimmend davon aus, dass die Ereignisse
sich für die Verteidigung der Weimarer Republik gegen den Vormarsch der NSDAP als verhängnisvoll erweisen sollte.
Der Gedenkstein wurde erst mehr als 50 Jahre später - nämlich vor dem 1. Mai 1991 enthüllt und zwar nicht auf Initiative einer politischen Partei, sondern auf Initiative des bezirklichen Heimatvereins mit Unterstützung der Bezirksverordnetenversammlung.
Wäre der 1984 gegründete Weddinger Heimatverein e. V. nicht aktiv geworden, gäbe es vermutlich bis heute nicht einmal diesen Stein. Das finde ich beschämend.
Fazit: Die nur zwei Sterne beziehen sich ausschließlich auf die Gestaltung der Gedenkstätte im Hinblick auf die Bedeutung der Ereignisse für die Arbeiterbewegung.[verkleinern]
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