Mein erster Abend im Flickenschildt vor rund fünfeinhalb Jahren war so interessant, dass ich diese Kneipe direkt in mein Herz schloss.
Als ich dort einkehrte, war das Flickenschildt recht leer. Am Fenster saß ein älteres Pärchen, das um halb elf ein spätes Spiegelei-Abendessen zu sich nahm (er mit Weizen, sie mit Rotspon). An der Theke saß ein geringfügig jüngeres Paar (er mit Pils, sie mit Mineralwasser), das nett mit dem Wirt plauschte. Irgendwann kam aus dem Hinterzimmer ein... weiterlesen
englischsprachiges Paar, dem der Wirt in perfektem Englisch vier große Biere berechnete (drei für ihn, eins für sie). Kurz vor elf betraten die vom Wirt schon avisierten „Sportler“ die Gaststube; zwei Herren, die offenbar seit 58 Jahren in der Gegend kegeln.
Dies war eine halbe Stunde, in der sich mir dank des kommunikativen Wirts (der das Flickenschildt damals im 20. Jahr betrieb) ein Großteil der Geschichte des Ladens erschloss. Er erzählte nämlich dem Tresenpaar von Emmy, einer Dame, die bis vor sieben Jahren und bis zum Alter von 86 bei ihm Kartoffeln gepellt hat (für die Bratkartoffeln, Standardbeilage vieler Gerichte). In den 16 Jahren, in denen sie im Flickenschildt arbeitete, hat sie sich kein einziges Mal krank gemeldet – weil sie am Job hing. Und weil sie Angst vorm Alleinsein hatte – sowie, was wohl die Hauptsache war, vorm Sterben.
Laut der Schilderung des Wirts stand sie stets morgens um sechs auf, frühstückte gern mal im Wandsbeker Karstadt und lief dann im Mundsburg-Center herum, wo jeder Geschäftsinhaber sie kannte. Später am Tag schälte sie im Flickenschildt Kartoffeln und war stolz wie Bolle (wie die Berliner sagen), wenn ihr Stammgäste aus dem gegenüberliegenden Ernst-Deutsch-Theater (wie Thomas Fritsch und Judy Winter) Autogramme gaben und mit ihr schnackten. Ihr Ziel war, so wenig Zeit wie möglich allein zu Hause zu verbringen.
An ganz ruhigen Sommertagen, an denen niemand Bratkartoffeln essen mochte, ließ sie der Wirt deshalb trotzdem fünf Kilo schälen, die er am Ende des Tages wegwarf – weil ihr sonst zu Hause die Decke auf den Kopf gefallen wäre. Ein böser Sturz beendete vor sieben Jahren ihre aktive Zeit im Flickenschildt.
Ich war seitdem immer mal wieder im Flickenschildt, auf ein Bier – oder auch auf eines der deftigen Heringsgerichte mit Bratkartoffeln, die prima schmecken. Auch wenn sie nicht von Emmy geschält wurden.[verkleinern]