Der Besuch in diesem Café ist eine Zeitreise. Eine entzückende, lohnende Zeitreise!
Entweder in die 50-er Jahre, wenn Ihr Westdeutsche seid, oder in die nicht ganz so lange vergangene Zeit des real existierenden Sozialismus.
Wir waren in Regen und grauem Nebel unterwegs und kamen wider Erwarten zu früh in Michendorf an, wo wir einen Termin hatten.
Auf der Suche nach einem Auffüllort für den Zuckerspeicher des Körpers fuhren wir die Hauptstraße des Ortsteils ab, nix. Nicht einmal eine... weiterlesen
Würstchenbude. Also Seitenstraßen abklappern, wo wir einem Schild zum Cafe Willmann folgten.
Es war noch Mittagszeit, also hofften wir, nicht nur Kuchen sondern auch etwas Herzhaftes zu finden.
Der erste Blick in das Restaurant war verblüffend. Ordentlich mit mehreren Decken und Deckchen gedeckte Tische und Tischchen, recht massive Stühle herum, eine Theke mit Bar, viele Vasen mit Blümchen, Gardinen an den Fenstern - und ein Mann mit Kreuzworträtseln und Zeitung beschäftigt am hellsten Tisch am Fenster. Er erschrak sichtlich, als wir hereinkamen, grüßte freundlich, raffte seinen Papierkram zusammen und verschwand durch eine Schwingtür.
Wir machten daraufhin freundliche Geräusche und hofften, dass ein mutiger Mensch zu uns käme, um nach unseren Befürfnissen zu fragen.
Wir waren erfolgreich mit unserer Taktik, eine wieselflinke kleine Dame mit grauem Haar und nettem Lächeln kam durch die Schwingtür zu uns.
Sie beantwortete unsere Frage nach substanzieller Nahrung mit festem "Ja" und brachte uns eine dicke Karte.
Es gab die ganzen guten alten Gerichte: Würzfleisch, Soljanka, Jägerschnitzel.
Ich wählte gebackenen Camembert, mein Begleiter entschied sich mutig für ein Steak mit gebratenen Zwiebeln.
Mit Kaffee versorgt warteten wir, was nun passieren würde.
Der Mann kam wieder. Er hatte seine Zeitungen auch mitgebracht und parkte sich nun hinter der Barriere der Theke. Manchmal schaute er zu uns herüber. Wir hatten ja sonst nicht viel zu tun, daher überlegten wir, was er wohl dachte. Wir kamen überein, dass er wohl spekulierte, wer wir sind, was wir hier wollen, ob wir vielleicht doch finstere Absichten hegten. Hin und wieder verschwand er durch die Schwingtür.
Die wuselige kleine Dame kam auch gelegentlich in Sicht, inzwischen mit einer Schürze vorherhum geschützt. Sie war offensichtlich auch die Köchin. In der Küche zischte es verheißungsvoll, intensives Zwiebelaroma nahm unserem Kaffee den Geschmack und schürte die Vorfreude auf das Essen.
Der Mann wurde durch Ansagen in die Küche gerufen und dann mit Besteck und Servietten an unseren Tisch gescheucht. Er führte alle Befehle mutig aus, versteckte sich aber bald wieder hinter dem Tresen.
Dann - hurra - ging die Tür wieder auf und die Herrin des Etablissements erschien ohne Schürze mit unseren Tellern. Sie wünschte uns guten Appetit und verschwand strahlend wieder in ihrem Backstage Bereich
Wir waren sehr zufrieden mit ihrem Werk. Es war ordentliche Hausfrauenküche und das Steak groß genug, den Hunger meines Begleiters zu stillen. Mein Käse war wie erwartet, die Toastdreiecke irgendwie sehr trocken, die Preiselbeeren sparsam dosiert. Normal eben.
Und wir waren nach wie vor allein in dem große Gastraum mit den vielen schön eingedeckten Tischen und Tischchen, den Gardinen und Pflanzen und Blümchen. Und mit dem stummen Mann mit seinen Zeitschriften und Rätseln.
Dieses zufällige Erlebnis hat bei mir eine Kopf-Reise angeregt. Ich war wieder als Kind im Bad Harzburg der Fünfziger Jahre, in Ausflugslokalen Berlins nach dem Mauerbau, in Kleinstädten der Provinz Bayerns.
Dafür danke ich der fleißigen Frau und dem seltsamen Mann, die das Café Willmann als Zeitkapsel bewahren und vor allen neumodischen Firlefanzen verteidigen!
Fazit: Fahrt nicht wegen des Essens ins Café Willmann, fahrt auch nicht hin, um Euch über die Wirtsleute lustig zu machen (das liegt mir wirklich fern!), fahrt hin, wenn Ihr in eine vergangene Zeit eintauchen und Euch dabei wohlfühlen wollt![verkleinern]