Zunächst mal: Wie kommt ein Allgäuer Sumpfgeist rund 1000 km nordwärts an die Waterkant, wo es keine Berge gibt, an denen sich das Auge festhalten kann. Ganz einfach: Am 22. September 2017 sollte in Bremen ein Golocal-Treffen stattfinden und beim Studium der Meldeliste im Forum fand ich mindestens 5 langjährige Freunde, die ich gerne mal in echt kennenlernen wollte. Einer fehlte leider, aber @Sedina erklärte mir den Grund und den konnte ich nachvollziehen.
Diesen Wunsch teilte ich @kisto,... weiterlesen
die auch auf der Meldeliste stand, mit, da ich mich seit längerem mit ihr recht intensiv austausche, und sie pflanzte heimtückisch die Idee in mein altes aber noch recht gut funktionierendes Hirn, die lange Anreise doch auch dazu zu verwenden, einige Tage Entspannungsurlaub in ihrer Heimatregion zu verbringen. Der Keim fand noch guten Boden und ging auf: Ich reiste also schon am 18. nach Heiligenhafen (bei Fehmarn) und mietete mich in einer kleinen Privatpension recht preiswert ein.
Die junge Frau war so nett, mir, dem Ortsfremden einen guten Teil ihrer Freizeit zu widmen und zeigte mir sehr viele schöne Seiten ihrer Heimat, die dem notorischen Naturliebhaber, überraschend tief ins Herz gingen. Es gibt also nicht nur Berge und Wälder, Schluchten und Hochmoore wie zuhause, auch eine Steilküste, bestehend aus festgebackenem Feinsand hat ihren Reiz. Ich probierte sogar das Wasser der Ostsee, wie ich es schon 18 Jahre zuvor in Heringsdorf auf Usedom tat, wo es schon fast ‚süß‘ schmeckte. Diesmal wurde ich jedoch enttäuscht, der Atlantik war zu nahe, es schmeckte recht bitter.
Das Honorar für den exklusiven ‚Fremdenführer‘ bestand in zwei Einladungen zum Essen in Restaurants, die nicht gerade zur 08-15 Kategorie gehörten, aber dennoch keine Kult-Fresstempel waren, in denen man für wohlklingende und phantasievolle Namen für ganz normale Speisen Unsummen hinlegen muss, nur um dagewesen zu sein und damit protzen zu können. Das Titellokal bezieht seinen lateinischen Namen aus der Tatsache, dass es in ein Museumsgelände integriert ist, auf dem das Leben der Menschen in der Zeit der beginnenden Christianisierung der ‚heidnischen‘ Altslawen, die damals hier lebten, nicht nur in Exponaten dargestellt ist, sondern auch durch einen promovierten Historiker fachmännisch geschulte Darsteller gezeigt wird.
Aber zurück zur Titellocation: Anlässlich eines Besuches von @kisto an ihrem Arbeitsplatz im Museum, streunte ich natürlich auch über das Gelände, besah mir die an diesem Tag leider unbemannten Katen des Fischerdorfes und testete im Refectorium den Kaffee, für mich als Koffeinabhängigen ein Muss. Da der von einem Restaurationsautomaten zubereitete Kaffee eine englische Röstung war, die ich nicht kannte, war ich skeptisch, denn meiner historisch fundierten Meinung aus 3 Monaten Aufenthalt vor Ort nach hatten die Engländer von Kaffee keine Ahnung. Die junge Frau am Tresen verteidigte vehement und belustigt ihre Ware, also beschloss ich, das Experiment zu wagen, andere Gäste hatten es auch schon überlebt. Der von mir so geliebte ‚Cappucino‘ hatte leider nichts mit dem Original aus italienischer Röstung zu tun, aber zu meiner Überraschung der ‚Milchkaffee französischer Machart‘ sehr viel. Die emsige junge Frau argumentierte, dass der englischen Röstung gewisse Stoffe fehlten, die Kaffee üblicherweise zum Treibmittel machten, was gerade für ältere Herrschaften besonders bekömmlich sei. Dabei strahlte sie mich an wie eine kleine Sonne, wohl weil sie mich trotz Mähne zu diesen zählte, was ja nicht unrichtig war.
Ich ging durch den großen Gastraum hinaus auf die gemütliche rustikale Außenterrasse in Pfahlbauweise mit natürlichem Sonnenschutz in Form hoher Bäume. Dort durfte ich meinem von der Gesellschaft als ‚lebensgefährlich‘ verurteilten Laster des mäßigen Nikotingenusses, das meiner Gesundheit seit 52 Jahren in keinster Weise schadet, meinem Nervenkostüm aber auch nach fachmännischer Meinung sehr viel nützt, frönen durfte. Noch während ich mit der Tischwahl beschäftigt war, brachte die junge Frau meinen Kaffee plus ein schneeweißes Sitzkissen, damit ich mir auf den unlackierten Sitzflächen aus Hartholz keinen Spieß in den Allerwertesten einzog. Um sie nicht unnötig aufzuhalten, wählte ich meinen Tisch und kriegte ihn umgehend ‚wohnlich‘ aufgepeppt, fehlten nur noch Tischdecke, Kerze und Kaminfeuer. Aber damit konnte ich gut leben.
Nachdem ich mir drei Tassen dieses ‚harmlosen‘ Kaffees gegönnt hatte, stellte ich fest, dass es mit der vorhergesagten Nichtwirkung der englischen Röstung nicht gerade weit her war, d.h. ich musste mal für kleine Königstiger. Drinnen fand ich keinen schriftlichen Hinweis auf die nun gefragte Location, musste also nachfragen. – „Wir haben keine Toilette…“ – strahlte mich das Sonnenscheinchen an und wies auf ein Schild an der Treppe in Richtung Keller im Design wie ich es aus USA als Verkehrszeichen ‚one way‘ kannte. Ich dachte wohl zu kompliziert, denn mit der Aufschrift ‚Getränkerückgabe‘ konnte ich ein paar Sekunden nichts anfangen, dann schlug der Groschen hörbar auf dem Büchsenboden auf und lauthals lachend beeilte ich mich, dem verschlüsselten Hinweis zu folgen. DEN Witz kannte ich noch nicht, sowas gehört deutschlandweit veröffentlicht, wenn nicht im Rahmen der Regermanisierung unserer schönen Sprache sogar in den Duden eingetragen. Sehr originell und höchst zutreffend, vielleicht mal abgesehen vom Recyceln.
Beeindruckt von der Gemütlichkeit der Terrasse und der Freundlichkeit des Personals in Form des strahlenden Sonnenscheinchens studierte ich beim Verlassen des Hauses die neben dem Portal ausgehängte Speisekarte. Es gab eine Standardkarte mit regional typischen und immer vorrätigen Gerichten plus eine ‚Wochenkarte‘, die nur so lange galt, wie sie aushing, also jetzt. Auf dieser entdeckte ich etwas SEHR Interessantes, eines meiner Leibgerichte, zumindest zur Hälfte: Wildpilze in Rahmsoße mit Kartoffelklößen (!!!!!) WIE BITTE? Weder das Eine noch das Andere war regional typisch, das Hauptgericht war eigentlich eine bayerische Spezialität, wenn sie mit Semmelknödeln serviert wurde und die genannte Beilage eine eher Rheinisch-Westfälische. DAS musste unbedingt ausprobiert werden, was der holsteinische Küchenmeister daraus machte.
Ich lud @kisto dazu ein, sie war von der Zusammenstellung begeistert und sagte zu. Tags darauf hatte sie frei und wir ritten ein, Sonnenscheinchen strahlte und ich orderte schon im Vorbeigehen den obligatorischen Milchkaffee. Sie hatte sich meine Eigenheiten gemerkt, auf der Untertasse lagen 5 Tabletten Süßstoff und KEIN Keks. Wir bestellten das Essen und kriegten mitgeteilt, dass es ein bisschen dauern würde, die Klöße würden frisch zubereitet. (???? Ich kann selbst kochen und Klöße gehören zu meinem Repertoire, die müssen nach dem Formen mindestens 10 Minuten kochen und dann eine halbe Stunde ziehen, also stellte sich die Frage nach der Relativität von 'ein bisschen'). Die Spannung stieg.
Der obligatorische kleine Salat kam sofort und wurde gleich verdrückt, nicht weil wir Bärenhunger hatten, sondern weil @kisto wie ich meinen Kaffeegenuss ebenso eine kulinarische Leidenschaft pflegte: EIS zu jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit, und eine MÖGLICHE Gelegenheit war der Nachtisch zu diesem Essen. Doch zu meiner Überraschung kam dieses schon nach einer guten Viertelstunde und präsentierte sich äußerst fotogen nach dem Motto: Das Auge isst mit. Aber Klöße per Definition waren das nicht, eher ein Mittelding zwischen Berner Rösti und Wiener Reiberdatschi, die man auch woanders ansiedeln kann, zum Beispiel als Puffa am Wedding von Berlin. Ich war sehr erleichtert, dass der experimentierfreudige Küchenchef diese Lösung gefunden hatte, es sah nicht nur gut aus, es schmeckte auch hervorragend.
Meine Überraschung wurde von Sonnenscheinchen offenbar gepetzt, denn als wir fast fertig waren, tauchte der Chef auf, natürlich um sich zu erkundigen, ob es denn geschmeckt hätte. Daraus entspann sich eine nette Unterhaltung mit ihm, er hatte wohl selten Gäste aus dem Allgäu und zog mir ein paar Ideen für seine Küche aus der Nase. Mittlerweile brachte Sonnenscheinchen das Eis für @kisto und den inzwischen vierten Kaffee für mich. Das Eis wurde korrekt im Becher aus Chromstahl mit stilecht breiter ‚Eisschaufel‘ geliefert und ob die beiden Makronen (passend zum Haselnußeis) auf dem Unterteller mit den Fingern dorthin gelegt wurden, war uns so hoch wie breit.
Ich bin gespannt, ob ich eine Rückkopplung kriege, wie mein detailliertes Rezept für ‚Allgaier Käschpatza met grescht Zibala‘ (Für nicht des Westallgäuer Gebirgsidioms mächtige Leser hier gedolmetscht: Allgäuer Käsespätzle mit Röstzwiebeln) im Refectorium des Oldenburger Wallmuseums einschlägt und vor allem, was der experimentierfreudige Koch aus der eigentlich strengen Rezeptur machte. Vielleicht kriege ich ja selbst eines Tages Gelegenheit, dies zu testen.[verkleinern]