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Ausgezeichnete Bewertung
Aktueller Nachtrag vom 21.2.2022 am Ende der Beschreibung
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Es gibt Orte in Europa, wo man hüfthoch durch den braunen Schlamm der deutschen Geschichte watet. Oranienburg (15 km nördlich von Berlin) ist ein solcher Ort: Konzentrationslager Sachsenhausen mit Sonderlager, SS-Inspektion der Konzentrationslager (IKL), Kasernen des SS-Truppenlagers, die Wohnsiedlung für die Familien der SS-Unteroffiziere und –Offiziere …
Das 1936 als „Schutzhaftlager“ errichtete KZ Sachsenhausen im... weiterlesen
damaligen Ortsteil Sandhausen ist nicht identisch mit dem KZ Oranienburg, das von 1933 bis 1934 bestand.
Angelegt ist Sachsenhausen als Häftlingslager mit dem Grundriss eines gleichschenkligen Dreiecks, umgeben von einer hohen Mauer mit mehreren Wachtürmen und dem Torhaus in der KZ-typischen Architektur.
Es bestand bis zur Befreiung durch sowjetische und polnische Truppen am 23.4.1945, die allerdings nur noch Kranke vorfanden, denn die SS hatte das KZ zwei Tage vorher evakuiert und die Häftlinge auf sogenannte „Todesmärsche“ geschickt.
Insgesamt waren in Sachsenhausen ca. 200.000 Menschen aus 40 Nationen inhaftiert. Zehntausende kamen ums Leben. Das Totenbuch nennt über 22.000 Namen. Alleine im Herbst 1941 wurden ca. 13.000 sowjetische Kriegsgefangene hingerichtet.
Auch zahlreiche Prominente waren Sachsenhausen inhaftiert und kamen z.T. ums Leben:
Herzog Georg zu Mecklenburg (1899-1963)
Jurek Becker (1937-1997 / Schrifsteller ua. „Jakob der Lügner)
Erwin Geschonnek (1906-2008 / Schauspieler)
Julius Leber (1891-1945 / Reichstagsabgeordneter der SPD)
Martin Niemöller (1892-1984 / Theologe)
Kurt Schuschnigg (1897-1977 / österreichischer Bundeskanzler)
Matthias Thesen (1891-1944 / Reichstagsabgeordneter der KPD
Bernard Wicki (1919-2000 / Regisseur ua. „Die Brücke“)
…. um sehr wenige aus einer sehr langen Liste zu nennen ….
Allerdings war die Geschichte des Lagers damit nicht zu Ende. Die Sowjetunion nutze das KZ als Straflager Nr. 7 (ab 1948 Nr. 1) bis 1950 weiter.
60.000 Menschen waren hier unter Bedingungen inhaftiert, die denen des KZ nicht viel nachstanden. Deutsche wegen ihrer wirklichen oder tatsächlichen Verstrickungen mit dem NS-Regime, NS-Funktionäre der unteren und mittleren Ebene, Gegner der Besatzungsmacht und auch tausende missliebige Sowjetbürger. Oft reichte schon ein vager Verdacht oder eine Denunziation für die Einlieferung ins Lager.
12.000 Häftlinge starben von 1945 bis 1950. Eines der prominenten Opfer war der Schauspieler Heinrich George (1893-1946) der noch 1944 in dem Goebbels’schen Durchhaltefilm „Kolberg“ den Bürgermeister Nettelbeck gespielt hatte.
In der DDR-Geschichtsschreibung fand das sowjetische Speziallager offiziell nicht statt. Es wurde ignoriert, totgeschwiegen.
Das Gelände von Lager und SS-Kasernen wurde zunächst von Roter Armee und sowjetischem Geheimdienst genutzt. 1950 erfolgte die Übergabe an die DDR, die hier die Kasernierte Volkspolizei (KVP) unterbrachte. Die Hinrichtungsstätte „Station Z“ wurde gesprengt, die Häftlingsbaracken der Bevölkerung als Bau- und Brennmaterial überlassen.
Ab 1956 waren SS-Truppenlager, Häftlingslager und die KZ-Inspektion Garnison des 1. Mot-Schützenregiments (entspricht den Panzergrenadieren der Bundeswehr) der NVA. Die SS-Wohnsiedlung dient bis heute zu Wohnzwecken.
Auf Druck ehemaliger ausländischer Häftlinge öffnete die NVA 1956 das ehemalige Häftlingslager für Besucher.
Schließlich beschloss die DDR-Regierung die Errichtung der „Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen“, die 1961 mit einer großen Propagandaveranstaltung eröffnet wurde. Im Fokus standen allerdings die Opfer aus den Reihen des kommunistischen Widerstands und die hier hingerichteten gefangenen Soldaten der Roten Armee.
Nach der deutschen Wiedervereinigung wurde das Konzept der Gedenkstätte völlig überarbeitet. Jetzt sind werden alle Opfer gewürdigt.
Auch die Zeit als sowjetisches Speziallager wird jetzt mit einem eigenen Museum dargestellt.
1993 erfolgte die Umbenennung in „Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen“.
Der Eingang zur Gedenkstätte erfolgt über das Besucherzentrum an der „Straße der Nationen“, wo es auch eine Bushaltestelle und einen Parkplatz gibt.
Der Besuch ist kostenlos. Führungen und der (freiwilligen) Audioguide sind gebührenpflichtig.
Vom Besucherzentrum führt der Weg über die einstige Lagerstraße zum Eingang des Häftlingslagers. Die Straße heißt heute Hans-von-Dohnanyi-Straße nach dem Reichsgerichtsrat und Widerstandskämpfer Hans v. Dohnanyi (1902-1945), der 1943 nach einem gescheiterten Attentat auf Hitler verhaftet und in Sachsenhausen inhaftiert wurde.
Auf Befehl von SS-Obergruppenführer Ernst Kaltenbrunner (1903-1946 / ua. Chef des Reichssicherheitshauptamtes) wurde v. Dohnanyi, schwer krank und bettlägerig, von einem SS-Sondergericht am 6.4.1945 im KZ Sachenhausen zum Tode verurteilt und am 9.4.1945, auf einer Bahre liegend, erhängt.
Die Straße wird flankiert von der Mauer der Lager-Kommandantur auf der einen und dem einstigen SS-Truppenlager auf der anderen Seite. Es wirkt verstörend, dort wieder schwarze Uniformen zusehen, getragen von Angehörigen der Landesfachhochschule der Brandenburger Polizei …
Auf Höhe des einstigen SS-Casinos zweigt dann der Zugang zum Häftlingslager ab. Von hier sind es durch die Kommandantur, wo sich heute ua. ein Gedenkhain und das Neue Museum befinden, nur wenige dutzend Meter bis zum markanten KZ-typischen Torhaus mit seinem eisernen Tor, dass den zynischen Sinnspruch „Arbeit macht frei“ trägt.
Nach dem Gang durchs Torhaus steht man auf dem ehemaligen Appellplatz und blickt auf über die weite, heute weitgehend leere Fläche des Lagers hinüber zu dem großen Mahnmal. Nur wenige Steinhäuser sind stehen geblieben. Von den Dutzenden Häftlingsbaracken haben nur die 2 im sogenannten Kleinen Lager und die Krankenbaracken die Zeit überdauert.
Rechts und links vom Torhaus sind ein paar Meter der ehemaligen Todeszone des Lagers mit Stacheldraht, Elektrozaun und Scheinwerfern rekonstruiert worden.
In diesem Zaun fand Oberleutnant Jakow Dschugaschwili (1907-1943), der älteste Sohn Stalins, unter bis heute ungeklärten Umständen den Tod. Es wird vermutet, dass er in selbstmörderischer Absicht in den Elektrozaun lief und von Wachposten erschossen wurde.
In den beiden erhaltenen Baracken des Kleinen Lagers wird an die jüdischen Häftlinge und die allgemeinen Haftbedingungen in Sachsenhausen erinnert.
Diese Baracken wurden 1992 durch einen Brandschlag Oranienburger Neonazis teilweise zerstört und später wieder aufgebaut. Die Brandspuren sind bis heute sichtbar und auch über 25 Jahre später riecht es och nach Brand.
Ein paar Schritte entfernt befindet sich der separate sogenannte „Zellenbau“. Hier befand sich ein Verhör- und Folterzentrum von SS und Gestapo. In dem einen erhaltenen Zellentrakt wird der hier inhaftierten Häftlinge gedacht.
Hier war auch jahrelang Georg Elser (1903-1945 im KZ Dachau) als persönlicher Gefangener („besonderer Schutzhäftling“) Hitlers in Einzelhaft eingesperrt. Elser hatte 1939 im Münchener Bürgerbräukeller ein Bombenattentat auf Hitler versucht. Auf persönlichen Befehl Hitlers wurde Elser am 9.4.1945 im KZ Dachau durch Genickschuss ohne Urteil hingerichtet.
Im Hof des Zellenbaus ist ein nicht mehr zugänglicher unterirdischer Bunker für verschärfte Isolationshaft erhalten.
Im Häftlingslager befindet sich am Rand des Appellplatzes die „Schuhstrecke“. Auf unterschiedlichen Untergründen und Straßenbelägen mussten hier Häftlingskolonnen Schuhe und Stiefel, vor allem für die Wehrmacht, bis zur tödlichen Erschöpfung auf Verschleiß und Eignung für den Truppeneinsatz testen.
Hier stand auch der Lagergalgen, der heute im Museum der Häftlingsküche gezeigt wird.
Die Häftlingsküche, ein massives Haus, wird heute als Museum, Kino und Multimediacenter genutzt. Teile der eigentlichen Küche haben sich erhalten. Gegenüber befindet sich die ehemalige Wäscherei, die heute als Veranstaltungsort ua. für Studientage dient.
In der südwestlichen Ecke des Lagers steht das Gebäude der Lagerpathologie mit Leichenkellern. Hier wurden verstorbene Häftlinge obduziert und medizinische Menschenversuche vorgenommen.
Diese Dokumentation setzt sich in den beiden Krankenbarracken fort.
Beklemmend ist die an der westlichen Außenmauer des Häftlingslagers befindliche „Station Z“. Von der DDR zerstört, ist sie heute eine eigene Gedenkstätte. Hier hatte die SS einen „Erschießungsgraben“ angelegt. Später kamen Genickschussanlage, Gaskammer und Krematorium hinzu. Tausende wurden hier ermordet, verbrannt und ihre Asche tonnenweise ua. in Oranienburger Gewässern versenkt.
Im nördlichsten Wachturm ist eine kleine Ausstellung zum Thema „Oranienburg und das KZ Sachsenhausen“ untergebracht.
Neben dem Turm ist der Durchgang zum ab 1944 errichteten Erweiterungsbau, dem sogenannten „Sonderlager“. Dieser Lagerteil wurde vom sowjetischen Geheimdienst als Häftlingsunterkunft, später als Lazarett genutzt. Die NVA der DDR lagerte hier Munition und Ausrüstung.
Hier befindet sich auch das 2001 eröffnete Museum „Sowjetisches Speziallager Nr. 1 / Nr. 7“
Im Zentrum der Fläche des Häftlingslager steht das DDR-Denkmal, dass an die Befreiung des KZ durch sowjetische Truppen 1945 erinnert. Vor einer turmhohen Betonstele, mit zahlreichen rote Winkeln (SS-Kennzeichnung für politische Gefangene) steht eine überlebensgroße Personendreiergruppe: Ein Rotarmist, flankiert von 2 (befreiten) Häftlingen, deren gesundes Aussehen allerdings realitätsfremder nicht sein kann.
Ein typisches Beispiel für DDR-Staatskunst.
Eine weitere Ausstellung befindet sich im „Neuen Museum“ vor dem Lagertor im Bereich der ehemaligen Lagerkommandantur.
Die Informationsflut in der gesamten Gedenkstätte ist schier erschlagend und überfordernd. Es ist schlicht unmöglich, bei einem Besuch alles zu lesen, in sich aufzunehmen und zu verarbeiten. Überall gibt es Informations- und Gedenktafeln.
Andere BewerterInnen hatten es schon angemerkt: das Verhalten einzelner Besucher und vor allem Besuchergruppen ist mitunter schwer erträglich. Das betrifft vor allem Jugendgruppen, die es am Verhalten entsprechend der Würde des Ortes gerne mal fehlen lassen. Das Benehmen erinnert mitunter mehr an den Besuch eines Freizeitparks.
Ich laste das allerdings weniger den Jugendlichen direkt an als vielmehr den Lehrern, Erziehern und Begleitpersonen. Irgendwas muss da bei der Vorbereitung des Gedenkstättenbesuchs furchtbar schiefgegangen zu sein.
Und einigen dieser jugendlichen Besucher standen Langeweile und Desinteresse an dem vermutlich angeordneten Besuch buchstäblich ins Gesicht geschrieben!
Allerdings sind es auch Erwachsene, bei denen man nicht weiß, was im Kopf so vorgeht. Ein lustiges Selfie oder Familienfoto im Erschießungsgraben vor der Kugelfangwand zumachen – da gehört schon viel geistige Armut dazu!!
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Aktueller Nachtrag vom 21.2.2022:
Das Sturmtief "Ylenia" hat am 18.2.2022 ein ca. 200m langes Teilstück der 2,80m hohen originalen östlichen Mauer des Häftlingslagers zum Einsturz gebracht. Verletzt wurde niemand.
Der Orkan "Zeynep" verursachte am 20.2.2022 weitere Schäden an der Mauer und an Gebäuden. Der Schaden liegt nach Angaben der Gedenkstättenleitung im sechsstelligen Euro-Bereich.[verkleinern]
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