Böswillige Kreaturen behaupten, die Region Nordhessen ließe sich lediglich mit Brandenburg vergleichen, was die Klotzköppigkeit der Eingeborenen und ihre von Natur aus maulige Einstellung allem Neuen gegenüber betrifft. Und das war jetzt sehr liebenswürdig ausgedrückt. Derartige Vorurteile kann ich nicht nachvollziehen, vielmehr glaube ich daran, dass alle Menschen prinzipiell gleich sind, demzufolge auch Nordhessen und Brandenburger. - Man merkt: Ich neige dazu, stets das Gute im Menschen zu... weiterlesen sehen.
Dies erscheint mir schon deshalb sinnvoll bzw. als eine Art Selbstschutz, weil ich sozusagen Kernbrandenburgerin bin. Einen Großteil meines Lebens verbringe ich damit, anderen zu zeigen, dass nicht alle Berliner arrogante Stiesel ("Ismir zu ostich/Ismir zu wessi/Ismir zu blöd!"), ignorante Banausen ("Der sieht aber toll aus, der frische Safran in dem Blumentöpfchen!") oder asoziale Prolls sind ("Ick rooche, woot mir passen tut! Ihr seid ja alle sooo spießich hia!").
Der Nordhesse/die Nordhessin toppt jedenfalls problemlos alle Brandenburgerinnen und Brandenburger. Hier gibt es noch "Fremdenzimmer" und "Fremdenverkehr". Und das ist genauso gemeint, wie es sich anhört. Man mag keine Fremden.
Umso größer meine Begeisterung, als wir ins "Moritz" kamen. Wir wurden herzlich (!) empfangen. Von einer offenbar einheimischen und dennoch gut gelaunten (!) Servicekraft und von ihren ebenfalls mit unerwartet freundlichen Gesichtern herumlaufenden Kolleginnen und Kollegen. Sie waren alle so nett, dass ich beinahe zusammengezuckt wäre. VIP-Treatment in der Provinz? Sowas gibt es nicht in Brandenburg ("Ihr kommt wohl aus Berlin? West oder Ost?") und in Nordhessen ("Sie sind wohl nicht von hier?").
Aber das "Moritz" ist toll, und zwar in jeder Beziehung. Sonst findet man in dieser erbarmungslos hinterwäldlerischen, aber landschaftlich reizvollen Gegend öfter mal Lokalitäten, in denen man um 13.45 Uhr mehr oder weniger diskret darauf hingewiesen wird, dass die Küche "eigentlich!" schon geschlossen ist. Die Gewährung einer weiteren warmen Mahlzeit käme mithin einem Almosen gleich. Demzufolge wird deutlich sichtbare Demut gepaart mit tiefer Dankbarkeit erwartet, damit die nölige Servicekraft mit dem müde herausgequälten Satz "Ich frag dann mal in der Küche ..." verschwindet, um dann unter dem frenetischen Jubel der wartenden Gäste mit den erlösenden Worten: "Ja, geht gerade noch", zurückzukehren. Aber im "Moritz" gibt es - man glaubt es kaum - durchgehend warme Küche! Und dazu noch ganz selbstverständlich, ohne Bittebitte.
Nicht nur der Service ließ mich zum Fan werden, nee: Auch das Angebot konnte in Qualität und Preis überzeugen. Ein leichtes Mittagessen war angesagt. Also für zwei eine Portion "Ahle Worscht", hier genannt: "Carpaccio von der scharfen Alten". In dieser Formulierung zeigt sich zudem ein für nordhessische Verhältnisse ungewöhnlicher Willen zum Humor. Vor allem aber schmeckte die Wurst ziemlich gut, sie war üppig dekoriert, sehr gutes Öl verband sich mit Kräutern zu einer wohlschmeckenden und elastischen grünlichen Soße. Zusammen mit gutem Brot ein schöner, rustikaler Auftakt zum Mittagessen.
Anmerkung: In Nordhessen esse ich zwanghaft "Ahle Worscht" (alte Wurst). Das ist eine luftgetrocknete Mettwurst. Sie schmeckt überall anders und überall sehr gut! Die Ahle Worscht, gern auch aus geheimen Quellen, ist für jeden nordhessischen Haushalt inkl. Gastronomie ein echtes Lebensmittel, etwa so wichtig wie Wasser - Nordhessen, die es nicht regelmäßig zu sich nehmen, verkümmern und sterben eines schrecklichen Todes.
Der aufmerksamste Ehemann aller Zeiten entschied sich zum Hauptgang für die Kartoffel-Pilz-Pfanne. Serviert wurde eine wahre Köstlichkeit: kugelige, schmackhafte neue Kartöffelchen, in der Schale gegart und mit frischen Champignons leicht angebraten, eine offenbar selbstgemachte, würzige Schmandcreme dazu. Lecker und preiswert! Ich nahm den Flammkuchen, hier die Gemüsevariante mit warmem Schmand. Das Gemüse war frisch und hatte Biss. Ein bisschen zurückhaltend gewürzt, aber wozu gibt es Salzstreuer? Insgesamt eine große Portion, von Geschmack und Preis (5,90) sehr akzeptabel und überaus üppig.
Um uns herum herrschte an diesem Freitagmittag lebhaftes Treiben. Einheimische, Touristen (Fremde!), Jüngere, Ältere - das "Moritz" hat sich zum beinahe weltstädtischen Treffpunkt entwickelt. Kein Wunder! Direkt im Stadtzentrum, im alten Rathausgebäude, gibt es ein richtig tolles Angebot: regional, bodenständig, saisonal, nur gelegentlich mit verzeihlichen Zugeständnissen an den Modegeschmack. Bei schönem Wetter kann man draußen sehr bequem sitzen, drinnen ist es ein bisschen verwinkelt, mit alten Fachwerkpfeilern, behutsam restauriert und daher gleichzeitig gemütlich und modern. Alles wird abgedeckt: Frühstück, Mittagessen, Kaffee und Kuchen, Abendessen, Snacks, Cocktails. Dazu Sonderangebote, vermutlich zur Ankurbelung des eher schütteren Rotenburger Nachtlebens: Von 20.00 bis 22.00 Uhr kosten monatlich wechselnde Cocktailangebote nur 4,50 Euro.
Wir sind Stammgäste, auch wenn wir nur zweimal im Jahr hierherkommen.[verkleinern]