Kiezkneipe mit Kontrastprogramm
Im Körnerkiez wenige Schritte von der Karl-Marx-Straße entfernt gibt es einen Platz, der eigentlich fast nur aus einer komisch-schrägen Kreuzung besteht. Irgendwann, als Neukölln noch Geld hatte, wurden dort poppige Sitzskulpturen aufgestellt, mit teils goldenem Mosaik verkleidet, mittlerweile bröckelnd und von nacktem Mörtel durchsetzt. Auf dem größeren Teil des Platzes steht eine alte Linde, auf dem kleineren Teil zwei neue Zierkirschen.
Im Eckhaus... weiterlesen
hinter den Bäumchen und dem Steinsofa gab es jahrzehntelang das, was in einem alten Arbeiterbezirk an eine solche Ecke gehört, eine Eckkneipe. Die alte Kundschaft verzog und verstarb oder der Wirt ging in Rente oder die Miete wurde erhöht - jedenfalls war es die Gentrifizierung, die zum Aus führte. Der Raum blieb leer, irgendwann wurde eine Neueröffnung angekündigt, der Raum blieb weiter leer. Endlich nach der Pandemie zog eine neue Kneipe ein, die nun die alte und die neue Kiez-Bewohnerschaft verbindet: das Bajszel.
Die Kneipe nennt sich Programmschänke, und beide Aspekte werden anspruchsvoll bedient. Das Programm umfaßt Lesungen, Vorträge, Filme und Konzerte. Es geht um Themen wie Zeitgeschichte, Gesellschaftskritik und Antirassismus, die Perspektive ist links und paßt zum Kiez, wenn man die Wahlergebnisse betrachtet.
Die Karte der Kneipe liest sich gut: Biere namhafter deutscher Brauereien vom Faß und aus der Flasche, also keine Massenware, keine Global-Kollektion und kein Craftbeer-Luxus, einfach nur solide. Ein paar offene Weine, ein knappes Dutzend Whiskys, dazu eine feine Auswahl sonstiger Spirituosen und Standard-Cocktails. Und das alles zu erstaunlich günstigen Preisen.
Das Bajszel ist eine Bereicherung für den Kiez, denn es ist so anders als die sonstige Mischung aus schwindenden Altberliner Bierlokalen, den sich mehrenden Kulturvereins-Zockerbuden und den ständig wechselnden Hipster-Café-Bars mit Coldbrew Coffee, Natural Wine samt Creamcheese Bagel und Shakshuka Bread. Hier gibt es stattdessen deftige Schmalzstullen und Balkan-Käse, hier muß man keinen Zehner hinblättern.
Zwar bekam das Bajszel Konkurrenz auf dem großen Teil des Platzes, denn dort hatte das Kiez-Wohnzimmer Laika nach über einem Jahrzehnt geschlossen, und die aus dem benachbarten Schillerkiez vertriebene Altlinken-Kult-Kneipe Syndikat zog ein. Doch anscheinend hat das dortige Publikum seine wilden Tage hinter sich und sitzt nun gemütlich beim Bierchen. Da ist im Bajszel zumindest beim Programm mehr los.
Die Kneipe ist schlicht und freundlich eingerichtet. Im Sommer sitzt man draußen auf dem kleinen Platz, umgeben von Bäumen und unbehelligt von Fußgängern. Es könnte sehr schön sein, wäre da nicht genau gegenüber die Feuerwache: Blaulicht und Martinshorn, Großstadt halt.[verkleinern]