In jedem IKEA gibt es Billy – das millionenfach verkaufte und hassgeliebte Bücherregal, das in unzähligen deutschen Haushalten einen oder mehrere feste Plätze einnimmt. Manchmal beschleicht mich der Verdacht, dass es neben dem normalen IKEA auch noch eine geheime Variante gibt, in der ausschließlich große Firmen einkaufen können. Wie sonst lässt sich die absolute deutschlandweite Gleichheit von Provinzbahnhöfen erklären? So, wie es Billy in verschiedenen Größen gibt, scheint es auch einen... weiterlesen
Bahnhofsbausatz in verschiedenen Größen zu geben. Potentielle Größen wären wohl:
Modell "Rurale Entwicklungszone" (vulgo: Kuhkaff One-Way“) – eingleisig, mit kleinem Bahnhofshäuschen im Shabby Chic-Look, dessen Innenleben ein ewiges Geheimnis bleiben wird. Gerne ohne Überdachung.
Modell "Beidseitig anfahrbare rurale Entwicklungszone" (vulgo: „Kuhkaff Two-Way“) – zweigleisig, Häuschen im Vintage-Look (ebenfalls mit unergründlichem Innenleben). Gerne mit pygmäenhaftem Unterstand.
Modell "Schwellenort" (vulgo: “Provinznest” (ebenfalls in One-Way und Two-Way Edition)). Häuschen im modernen Used-Look, in das man sich unter Umständen sogar reinsetzen kann (!). Blech-Überdachung.
Modell „Stadt“ – zwei- oder mehrgleisig, größeres Vintage-Style-Gebäude, sitzen möglich, Zeitschriftenladen und Service-Center der Bahn sehr wahrscheinlich.
Modell „Großstadt“ – vielgleisig, ein wenig belebter. Läden und Service-Center vorhanden, Fressmeile ebenfalls. Auf Wunsch und gegen kolossalen Aufpreis auch in der Version „unterirdisch“ erhältlich.
Meine Heimatstadt Reutlingen hat offenbar das Modell „Stadt“ käuflich erworben. Ein wenig hübsches Bahnhofsgebäude beinhaltet eine Bäckerei, ein Service-Center der Deutschen Bahn, einen Zeitschriften- und Tabakladen, sowie eine wenig einladende Bahnhofskneipe.
Wie es bei IKEA für Normalkunden durchaus üblich ist, dass hier und da mal eine Schraube, ein Beschlag oder ein Gewinde fehlen, scheint beim Zusammenbau des Reutlinger Bahnhofs das Modul „Toilette“ abhandengekommen zu sein. Denn Zusammenbastlern scheint es nicht anders gegangen zu sein, als mir…. Ich fahre nicht wegen einer fehlenden Schraube nochmal 30 Kilometer… und wegen so etwas Trivialem wie einer Toilette lohnt sich offenbar auch keine zusätzliche Mühe. Also fehlt das stille Örtchen. Das kann unter Umständen ein Problem werden – insbesondere für Konfirmandenblaseninhaber ältere Leute ist das kein Vergnügen. Der Zeitschriftenladen hat sich in den letzten Jahren herausgeputzt und ist wirklich ganz hübsch geworden.
Vor dem Haupteingang des Bahnhofsgebäudes liegen ein paar Stufen, die sich aber mit einer Rampe umgehen lassen. Hier endete bis vor einigen Jahren die Barrierefreiheit allerdings schlagartig. Die drei vorhandenen Gleise, von denen nur noch zwei genutzt werden (schwäbische Sparsamkeit?) liegen so, dass nur Gleis 1 (Fahrtrichtung Stuttgart) barrierefrei zugänglich war. Große Treppen führten zu Gleis 2 (Fahrtrichtung Tübingen) und Gleis 3 (vormals Fahrtrichtung Bad Urach, heute offenbar Hogwarts Express). Jeweils eine Kinderwagenschieberampe war das einzige Zugeständnis an Mobilität auf Rädern oder Rollen.
Die Treppe selbst hat bemerkenswert niedrige Stufen. Große Menschenmassen, die gleichzeitig dieses Wunderwerk ingenieurstechnischer Kunst hinunterhoppeln, wirken von der anderen Treppenseite aus immer ein bisschen so, als würde gerade das Riverdance-Ballett seine neueste Nummer einstudieren. Grand Staircase Dance – jetzt live am Reutlinger Bahnhof.
Vor einigen Jahren wurde die lang herbeigesehnte Abhilfe geschaffen und nach ewig langer Werkelei entstand ein Aufzug, der Gleis 2 und 3 für Rollstuhlfahrer erreichbar machte. Der funktioniert manchmal sogar tatsächlich… oft aber hängt auch einfach ein Schild mit der Aufschrift „Außer Betrieb“ an der Aufzugtür. Dumm gelaufen.
Die Überdachung der Gleise besteht aus gänzlich unfiligranen T-Träger-Konstruktionen, über die sich gänzlich unfiligrane Metalldächer spannen. Die modische Farbe „Korrosion dunkel“ wird durch witterungsbeständigen Lack immer wieder überstrichen. Auf dem Bahnsteig von Gleis 2 und Hogwarts Express befindet sich ein kleines, verglastes Häuschen, das ein wenig die Witterung abhalten soll… Das ist auch bitter nötig, denn auf den Gleisen zieht es – wie der Schwabe so schön sagt- wie Hechtsupp. In den kalten Jahreszeiten ist eine lange Warterei wenig vergnüglich.
Alles in allem ein typischer Bausatz „Stadt“ mit einigen vergessenen Teilen. Nicht hübsch, mäßig praktisch. Darüber können auch die vor einigen Jahren installierten Fahrradschließfächer, in denen Mann oder Frau seinen oder ihren Drahtesel wegschließen kann, nicht hinwegtäuschen. Zwei Sterne.[verkleinern]