An einem heißen Werktag, kurz vor 13:00 mittags erreichen wir sein Revier. Hier soll es also leben, dieses scheue Wesen, das wir in seiner natürlichen Umgebung studieren wollen….
Schon allein die Anreise zu diesem abgelegenen Ort gestaltet schwierig. Das Revier unseres Studienobjekts befindet sich auf einer Anhöhe am äußersten Rand der Tübinger Altstadt – umgeben von geographischen und anthropogenen Barrieren hat sich unser Studienobjekt hier einen recht isolierten Lebensraum geschaffen. Nebst... weiterlesen einer Treppe mit über 100 Stufen lässt sich das Areal nur durch eine bewachte PKW-Zufahrt mit Schranke (nur frei für Taxis oder Menschen, die einen Behindertenausweis besitzen), sowie eine fußläufige Entfernung einiger 100m ab der nächsten Bushaltestelle erreichen.
Doch nun sind wir hier und betreten das wenig charmante Gebäude aus dem Jahre 1909, das unser Studienobjekt zu seinem Revier erklärt hat.
Wir sind auf der Suche nach Homo medicus, dem Arztmännchen... in Speziellen nach einer Unterart, dem Homo medicus ophthalmologicus – dem Augenarztmännchen.
Die ersten Begegnungen haben wir allerdings mit unzähligen Homo sapiens, die in gigantischen Zahlen die Warteflure bevölkern. Worauf warten sie alle? Die Sichtung eines Homo medicus ophthalmologicus? Die Stimmung ist sichtlich gereizt.
Im nachfolgenden betreten wir einen Raum, in dem zwei weibliche Homo sapiens MTA residieren. Nach einem kurzen und wenig herzlichen Anmelde-Gespräch verlassen wir den Raum und legen uns in einem der Warteflure auf die Lauer. Die mitgenommenen Fotofallen erweisen sich als überflüssig. Wir erwischen zwei strategisch günstige Plätze direkt gegenüber der Kaffeetränke. Schon nach einer halben Stunde Warterei im völlig überhitzten und überfüllten Flur stellen sich erste Erfolge ein und wir können ein Arztmännchen beobachten, wie es sich einen grässlichen Filterkaffee an der Tränke genehmigt. Ein kurzer Blick auf sein Emblem zeigt, dass es sich hierbei um ein eher rangniederes Männchen (cand. Med.) handelt. Während der nächsten beiden Stunden im stickigen Flur zeigen sich noch weitere dieser Exemplare.
Dann, ganz plötzlich, öffnet sich eine Tür und meine Mutter kann die Räumlichkeiten eines rangmittleren Individuums betreten. Dieses Arztmännchen ist offenbar Assistenzarzt und verabreicht Augentropfen. Kennzeichen der rangmittleren Individuen ist eine deutlich zu laute Aussprache kombiniert mit dem Verlangen, alle Homo sapiens als begriffsstutzig anzusehen.
Dann, nach einer weiteren dreiviertel Stunde, öffnet sich plötzlich die Tür, hinter der sich das ranghöchste Arztmännchen befindet. Meine Mutter wird eingelassen. Nach nicht ganz fünf Minuten, in denen das Arztmännchen seine Begabung zum Netzhautlasern einsetzen konnte, ist alles schon wieder vorbei und meine Mutter verlässt blinzelnd und leicht desorientiert sein Refugium. Ich schließe mich ihr an. Wir werden ja schließlich wiederkommen. Nicht nur einmal, nicht zweimal, sondern noch einige Male mehr.
Schon bald wird es noch mehr Dinge aus dem geheimen Leben des Homo medicus ophthalmologicus zu berichten geben.
Zwei Sterne gibt es für die Qualität des Oberarztes. Die katastrophale Organisation, unendliche Wartezeiten, das unfreundliche Sprechstunden-Personal, sowie die fürchterliche Lage verhindern mehr Sterne.
Erst vergangene Woche wurde der Grundstein für eine neue Augenklinik gelegt. Hoffen wir, dass das neue Revier dem Arztmännchen zu Gute kommt.[verkleinern]