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Hundertjährige Hypermoderne
Wer durch das romantische Rixdorf spaziert und vom alten Dorfanger auf der Richardstraße nach Norden geht, erfreut sich an der Mischung aus Katen mit Bauerngärten und Gründerzeitbauten mit Stuckfassaden und Schnörkelbalkons. Doch nach wenigen Minuten erlebt der Flaneur einen Schock: in all der lieblichen Beschaulichkeit erhebt sich ein merkwürdiger dräuender Block. Dunkelroter Klinker mit Schlitzfenstern fünf Stockwerke hoch vom Boden bis unter die Flachdachkante, völlig einförmig, nur unten eine Tür in einem mit ockerfarbenem Stein abgesetzten Spitzbogen. Das Ganze sieht aus wie eine auf die Spitze getriebene Studie einer gotischen Kathedrale. Links davon ein nicht minder seltsamer Zweigeschosser, mit eigenwilligen weißen Elementen im Backsteinrot, der wie das Torhaus einer Burg wirkt. Moderne Architektur, zweifelsohne - aber warum hier, in diesem Dorfsträßchen, warum nicht an einem freien Platz im Stadtzentrum?
Die Antwort ist einfach: Hinter der spektakulären Fassade steckt ein Zweckbau zur Versorgung der Nachbarschaft, nämlich ein Umspannwerk. Das ist eine Anlage, die - vereinfacht gesagt - den Strom von Hochspannung, mit der er vom Elektrizitätswerk kommt, in die niedrige Netzspannung für den Hausgebrauch umwandelt. Die Elektrifizierung Berlins begann in den 1880ern, als Emil Rathenau Patente des amerikanischen Erfinders Thomas A. Edison zum Gebrauch in Deutschland erwarb und die Beleuchtung mit elektrischen Glühlampen in Berlin vorantrieb. Aus Rathenaus erster Firma ging die BEWAG (Berliner Städtische Elektrizitätswerke AG) hervor, der erste Grundversorger.
In Sachen Elektrizität war Berlin in ganz Europa führend, sowohl bei technischen Erfindungen als auch bei der Anwendung in der Stadt. Bei der Straßenbeleuchtung hatte das Gas ausgedient, und beim Verkehr die Pferde, nun leuchteten Bogenlampen, und es fuhren Tramways, später Hoch- und Untergrundbahnen. In den Fabriken ersetzten Elektromotoren die alten Dampfmaschinen. Nur bei den Privathaushalten verlief die Umstellung schleppend: vor dem Krieg gab es kaum Hausanschlüsse, 1920 war immerhin ein Viertel der Berliner Wohnungen ans Netz angeschlossen und ein Jahrzehnt später die Hälfte.
Kurzum, die Goldenen Zwanziger waren elektrisch, und dafür waren viele Umspannwerke notwendig. Die BEWAG baute Dutzende, fast alle entworfen vom hauseigenen Chefarchitekten Hans Heinrich Müller. Zwar setzte er den Burgen-und-Kathedralen-Stil der gründerzeitlichen Industriebauten fort, doch er entkleidete die Gehäuse des romantischen Zierrats, in gewisser Weise mathematisierte und technisierte er sie. Das Umspannwerk in der Richardstraße von 1926/27, eins seiner Frühwerke, ist ein besonders gelungenes Beispiel.
Die künstlerische Leistung Müllers geriet schon vor seinem Tod 1951 in Vergessenheit. Zwar hegte die BEWAG die funktionslos gewordenen Bauwerke der Zwischenkriegszeit, doch als Vattenfall in den 1990ern das städtische Unternehmen kaufte, gingen die alten Bauten als Ballast an Immobilien-Investoren. Die wenigsten der historisch wichtigen Gebäude wurden danach sinnvoll genutzt, viele sollen abgerissen oder zur Unkenntlichkeit umgebaut werden, Denkmalschutz hin oder her.
Nun war die Denkmalbehörde des Landes alarmiert, und 2012 versuchte sie mit einer Kampagne zum Tag des offenen Denkmals, sämtliche Berliner Elektrizitäts-Bauten der 1920er als UNESCO-Weltkulturerbe registrieren zu lassen, scheiterte aber.
Das Richardstraßen-Umspannwerk beherbergte einige Jahre eine Galerie für moderne Kunst, die "Savvy Contemporary". Bei der Eröffnung des Kunstorts 2013 konnte ich das Industriedenkmal von innen sehen. Zwar fehlten fast alle technischen Anlagen, doch waren nur wenige Wände herausgerissen worden. Die alte Struktur war noch vorhanden, auch sichtbare Spuren wie Öl, Schmutz, Verfärbungen und vor allem der brandig-muffige Geruch. Das hatte schon etwas Magisches, erst recht mit all den beautiful artsy people dazwischen. Nach vier Jahren zog die Galerie in einen anderen Stadtteil, seitdem steht das Gebäude leer.
Der Eigentümer plante die Umwandlung in Luxuswohnungen, gegenüber sollte ein riesiger Glaspalast für Büros gebaut werden - weg mit der Geschichte, weg mit dem Dorfidyll. Derzeit ist nichts Konkretes bekannt, noch lädt die außergewöhnliche Fassade zum Nachdenken über hundert Jahre Zivilisation ein. Das eigentliche Umspannwerk ein paar Ecken weiter wurde schon in einen hippen Coworking Space konvertiert. Also: nichts wie hin, bevor es zu spät ist!