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Fast jede Stadt hat eine… einer dieser Fußgängerzonen-Einkaufsstraßen. Auch Reutlingen hat eine. Fast schnurgerade zieht sich die Wilhelmstraße durch die ehemalige Altstadt Reutlingens. Ehemalig? Durchaus, denn der Zweite Weltkrieg legte einen Großteil des alten Fachwerkcharmes sprichwörtlich in Schutt und Asche. Was in der Nachbarstadt Tübingen erhalten blieb, wurde in Reutlingen völlig zerstört und in beton-kubistischer Variante nach dem Krieg wieder aufgebaut. Hübsch geht anders.
Alte... weiterlesen Lateiner würden nun sagen: Wilhelmstraße est omnis divisa in partes tres. Marktplatz und Marienkirche unterteilen die Wilhelmstraße in drei Teile – die untere, mittlere und obere Wilhelmstraße. Nur in der oberen Wilhelmstraße, die sich selbst zu Marketingzwecken den Beinamen OWi gegeben hat (Aua-Slogan: OWi schön!), lässt sich noch stellenweise alter Charme erahnen. Der Rest ist – nun ja- das Übliche. Auch das meine ich im wortwörtlichen Sinn….
Aber der Reihe nach... Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich die Wilhelmstraße meiner Kindheit vor Augen. Umbauten der heutigen Zeit lassen die Erinnerungen an die alte Wilhelmstraße immer mehr verblassen, doch einiges ich noch geblieben. Allen voran der Gedanke daran, dass früher alles ein wenig individueller war.
In der unteren Wilhelmstraße (ich nenne sie jetzt in Anlehnung einfach mal UWi) ließen gab es früher Geschäfte, die Kinderherzen höher schlagen ließen. Allen voran Panne. Quell kindlicher Freude – Spielwaren auf eng vollgestellten drei Etagen. Klein Jul war in der Stadt ausgebüxt? Einfach bei Panne in der Plüschtierabteilung suchen ;) Im Zweifelsfall saß klein Jul anhimmelnd vor dem fast lebensgroßen (und lebensgroßnasigen) Plüschelch von Steiff. Hier gab es auch all die kleinen Kästchen und Schublädchen voller Eltern-Nerv-Utensilien. Knackfrösche, Gummibälle, lustige Spiralen. Einfach toll. Vor vielen Jahren schloss Panne seine Pforten – nun ist hier DM.
Tatsächlich gab es dereinst auch ein Pflanzen- und Zoogeschäft namens Samen Stiegler. Saatgut, ausgewachsene Botanik, Gartenzubehör, Tierbedarf und Aquarien mit Zierfischen drängten sich hier eng-charmant aneinander. Ein Paradies für Kinder – Wilhelma auf der Wilhelmstraße. Weg. Hier steht nun ein Häuserblock mit Modeläden.
Auch der damalige Innenstadtsupermarkt, eine absolut unbarrierefreie und völlig rummelige Filiale von „Kaisers Kaffeegeschäft“ nebst daneben liegendem Hotdog-Stand (inklusive Würstchenkarussell – für Kinder sehr spannend!), musste der Moderne weichen. Hier steht nun eine Einkaufspassage en miniature, das Müller-Center. Beim letzten Besuch dort musste ich Hals über Kopf vor einer Autogrammstunde von Helene Fischer flüchten.
Alte Bekleidungsgeschäfte der UWi und MiWi (ihr könnt es Euch denken) wichen nach und nach ebenfalls größeren Ketten. Aus Haux wurde Zinser, aus Kögel ein Neubau mit zwei Klamottenläden. Der Individualismus verschwand. Klammheimlich, still und leise wanderten mehr und mehr große Ketten in die Innenstadt ein. UWi und MiWi gleichen heute jeder beliebigen anderen Innenstadt. Es gibt wenig, was es nicht anderswo auch gäbe. Mir blutet das Herz, wenn ich das sehe. Für Freunde des Klon-Shoppings (egal in welcher Stadt, ich kriege das gleiche Zeug überall), mag das in Ordnung sein. Für mich nicht.
Einzig und allein ein Blick in die OWi tröstet ein wenig darüber hinweg. Auch hier gab es früher tolle Läden, die nun leider den Nebeln der Vergangenheit angehören – allen voran Feinkost Böhm, ein Paradies für den Einkauf wunderbarer Lebensmittel mit einer grandiosen Fischtheke und dutzenden Aquarien mit Hummern, Krebsen und Fischen, aus denen man seinen künftigen Tellerbelag selbst auswählen konnte. Noch eine Wilhelma auf der Wilhelmstraße. Leider ebenfalls geschlossen.
Nichtsdestotrotz ist die OWi einigermaßen individuell geblieben. Hier gibt es kleine Läden mit allerlei verschiedenen Dingen. Deko, Design, Wolle, Kleidung, eine Filiale des tollen Schuhhauses Nestel samt eigenem Shop für Schuhwerk von Timberland und Camper, einen Süßwarenladen, Eis, Juweliere, Optiker und erzklassische Caféhäuser wie Lieb und Sommer.
Wenn ich nach Reutlingen komme und nicht auf Shopping-Mission unterwegs bin, mache ich um UWi und MiWi recht große Bögen. Einzig und allein die Präsenz des tollen Bäckers Wucherer (aufgrund seiner Lage in der UWi bei allen Einheimischen als „unterer Wucherer“ tituliert), lockt noch in die UWi. Der Rest wird zügig abgelaufen. Bummeln kann man hier vergessen. Die Klon-Geschäfte machen aus einem unvergesslichen ein eher gut vergleichbares Einkaufsvergnügen. Die OWi ist und bleibt noch der spannendste Teil – OWi schön. Hier trifft es zu.
Wenn es an einem in der Wilhelmstraße nicht mangelt, dann sind es Schuhgeschäfte. Nicht umsonst ist Reutlingen bis heute die Stadt mit der höchsten Schuhladendichte pro Einwohner.
Der alte Asphalt ist vor kurzem einem Plattenbelag gewichen. Der ist hübsch und – durch seitlich angebrachte, tiefe Regenrinnen auch gleichsam nicht praktikabel. Für Rollstuhlfahrer und Rollatorenschieber sind diese Rinnen ätzende Hindernisse. Für Menschen mit eingeschränkter Geh- oder Sehfähigkeit unter Umständen auch mal kreuzgefährlich. Dieses Debakel soll nun rückgebaut werden.
Sicherlich positiv ist das Ersetzen der alten Sitzbänke Modell „stählerner Hinterngrill dunkelgrün“ durch „Holz mit Stahl, kubistisch“. Nun hat man auch im Sommer nicht mehr das Gefühl, auf einem vorgeheizten Grillrost Platz zu nehmen, während man Eis schlotzend den balzwilligen Pubertierenden zuschaut, wie sie vier oder fünf Mal die UWi rauf und runter gockeln. Großartig!
Wieviel Sterne verteilt man nun einer Straße wie dieser? Die Klon-Shops der unteren und mittleren Wilhelmstraße und die schmerzliche Erinnerung daran, wie individuell früher alles war, lassen nicht mehr als drei Sterne zu. Die meisten davon gehen auf die Kappe der OWi.
Wer Einblicke in "Reutlingen ganz ganz früher" sucht, wird auf diesem Blog sicherlich fündig: http://rv-bildertanz.blogspot.de/2009_03_01_archive.html[verkleinern]
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